Notwendigkeit der persönlichen Anhörung des Patienten

BGH Beschl. v. 21.6.2022 – VI ZR 310/21

Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen.

Der Fall

Das Landgericht hatte die Klage eines Patienten abgewiesen, das Oberlandesgericht die Berufung des Patienten durch Beschluss zurückgewiesen. Der Patient hatte u.a. eine Verletzung der Aufklärungspflicht behauptet. Die Instanzengerichte hatten diesen Vortrag des Patienten als richtig unterstellt und auf eine Anhörung des Patienten verzichtet, da sich der Arzt mit Erfolg auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten berufen könne. Der Patient habe einen Entscheidungskonflikt schriftsätzlich nicht plausibel dargelegt.

Rechtliches Gehör

Der Bundesgerichtshof sieht darin eine Verletzung des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. An die Pflicht des Patienten zur Substantiierung eines Entscheidungskonflikts seien keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Der Tatrichter dürfe Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, regelmäßig nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen: „Die persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglichen, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Patienten sachgerecht beurteilen zu können“. Ein Ausnahmefall könne vorliegen, wenn schon die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben.

Die Praxis

Die Instanzengerichte hören Patienten in der Regel ohnehin informatorisch an. Wenn eine Aufklärungsrüge erhoben wird, wird regelhaft auch danach gefragt, wie sich der Patient entschieden hätte, wenn er denn (vollständig) aufgeklärt worden wäre. Erfahrene Richter/innen berücksichtigen dabei, dass der Patient das eingetretene Risiko ausblenden und sich gedanklich in seine damalige Situation zurückversetzen muss. So wird ein schmerzgeplagter Patient nach langem Leidensweg, der sich deswegen hilfesuchend an einen Arzt wendet, kaum glaubhaft darlegen können, dass er sich z.B. gegen eine ihm diese Schmerzen nehmende Spritze oder Infusion oder auch gegen einen Eingriff entschieden hätte, wenn er gewusst hätte, dass es dabei in (ganz) seltenen Fällen auch zu Abszessen, Nervenverletzungen, Infektionen etc. kommen kann.

Fazit

Der Bundesgerichtshof hat mit dieser Entscheidung kein Neuland beschritten, sondern das ohnehin regelhafte Vorgehen der Instanzengerichte wiedergegeben. Der „mutige“ Verzicht auf eine Anhörung des Patienten ist nur ganz seltenen Ausnahmefällen vorbehalten.

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